lob des schattens. rewriting.
[in praise of the shadow]
four different japanese characters sung by one soprano with ensemble and tape (2017/2021)
instrumentation: soprano and ensemble (violin, cello, flute, clarinet, piano) and electronics (tape 4-channel)
duration: 12'
premiere: 21/10/2021 in the Mozarteum Salzburg by NAMES (New Art and Music Ensemble Salzburg)
self-publishing edition: make contact
The present work is a reworking of an opera in Japanese that was premiered back in 2018.
In this new and much shorter version only one soprano sings the main „arias“ from four different characters in succession (Nun, Geisha, Kōgō and the Shadow). Therefore it is important for the performance that the single soprano tries to sing in four very different and distinct characters.
click here for the original version
Text von Ronny Dietrich
Oscar Jockel beschreibt seine Oper Lob des Schattens als „einen Versuch, die menschlich existentielle Einsamkeit durch die Begegnung mit dem Schatten abzubilden: Es war die Frage nach persönlichen Abgründen und der Wunsch nach leeren Flächen, die mich zur ‚transzendentalen Obdachlosigkeit’ (Georg Lukacs, Theorie des Romans, 1916) unserer Gesellschaft führte: In Zeiten, wo wir alles ausgeleuchtet haben und alles Irrationale rational von innen und außen begriffen haben (Psychoanalyse, Aufklärung, Entmystifizierung, etc.), schien für mich die Irrationalität des menschlichen Handelns und der persönliche Wunsch nach Leere größer denn je zu sein. Diese Leere faszinierte mich, weshalb ich sie genauer betrachten wollte. Leere Flächen sind nie leer, sondern dienen als Projektionsfläche des eigenen Ichs. Das war schon im Alten Testament so, denkt man etwa an die theologische Bedeutung der Wüste, zeigt sich aber vor allem in der japanischen Kultur, die schon immer die Umschließung des Dunklen, des Schattens und der Leere ästhetisierte.“
Dieses Phänomen beschreibt der japanische Schriftsteller Jun‘ichiro ̄ Tanizaki (1886–1965) in all seinen Facetten in dem Buch Lob des Schattens – Entwurf einer japanischen Ästhetik, 1987 im Verlag Manesse herausgegeben und ins Deutsche übersetzt von Eduard Klopfenstein. Dort heißt es: „Unbestimmtheit ist ein Schlüsselmerkmal der japanischen Kunst: das Vermeiden absoluter Ideen und Bilder und vor allem eines horror pleni (die Angst vor gefüllten Flächen). Durch das Spiel mit leeren Flächen, etwa dem Einsatz von Dunst- und Nebelfeldern, geraten sekundäre Motive ins Blickfeld, je nach interpretatorischem Ansatz des Betrachters und den Empfindungen, die sie in seiner Seele auslösen.“
Dieser Idee, der auch das orientalische Theater verpflichtet ist, das – so Antonin Artaud – „mit seinen metaphysischen Tendenzen dem abendländischen mit seinen psychologischen diametral gegenübersteht“, folgt die Oper Lob des Schattens, die fünf in ihrer Einsamkeit gefangene und zur Kommunikation zunächst unfähige Individuen vorführt. Es sind diese japanischen Mythen und Legenden abgelauschte Archetypen, eingeschlossen in ihre Geschichten:
Der Mönch, der in selbst gewählter Einsamkeit auf der Suche nach der Vollkommenheit ist in dem Bewusstsein, diese nie erreichen zu können.
Die Statue, die gespalten hin- und hertaumelt zwischen der ihr zugewiesenen Aufgabe und der Sehnsucht nach ihrer Individualität.
Der Kaiser, seiner Macht enthoben, sinniert über die Sinnlosigkeit vergangener Kriege, um sich dennoch die Vergangenheit zurückzuwünschen.
Die Geisha, die sich einem Schmetterling gleich aus ihrem Kokon zu befreien sucht.
Die Kaiserin, die ihr persönliches Leid ihrem Status gemäß verdrängt.
Jeder Figur hat Oscar Jockel ein Haiku zugeordnet, also jene kürzeste Gedichtform, die sich traditionell aus konkreten, in der eigenen Gegenwart, oft der Natur beobachteten Bildern zusammensetzt, um die darunter verborgenen Emotionen erst durch den Zusammenhang, den die Rezipienten selbst herstellen müssen, zu erschließen.
Dabei führt alleine schon die Mehrdeutigkeit der von den Dichtern gewählten Bilder, bedingt durch die hohe Zahl von Homonymen im Japanischen, zu unterschiedlichsten Auslegungen. Diese Interpretationsvielfalt spiegelt sich in der Komposition durch vibrierende Klangflächen und minimale Transformationen des musikalischen Materials wider, einer schimmernden Feuerglut gleichend, vor der man stundenlang verweilen kann und die ganze Welt zu sehen glaubt.
Oscar Jockel: „Die Faszination der japanischen Ästhetik für das Dunkle, Uneindeutige und des stetigen Übergangs war es, die mich dazu veranlasste, nach den Gründen für meinen Wunsch nach leeren Flächen, dunklen Innen- und Außenräumen und zum Unerklärlichen zu suchen. Das Ergebnis ist diese Oper, die jene leeren Flächen mithilfe des Dunklen und des Schattens ausleuchtet und somit keine Antwort, sondern eine andere Perspektive auf die Frage nach unserer existentiellen Einsamkeit liefert“.
Über einem feinst ausgehörten und sich stetig verändernden elektronischem Grundklang erheben sich die Gesangsstimmen zunächst solistisch und unabhängig voneinander, um sich im weiteren Verlauf immer mehr zu überlagern, aneinander anzunähern und eine vermeintliche Gemeinschaft zu bilden, in der sie versuchen, ihre ungewollte Einsamkeit zu überwinden. Ein Prozess, der mit dem Auftauchen des weißen „Schattens“ zu einem plötzlichen Stillstand kommt. Der Schatten stellt die Abstraktion aller Einsamkeiten dar, wodurch die Charaktere in diesem nacheinander ihre eigene individuelle Einsamkeit wiedererkennen. Durch diese Erkenntnis und Akzeptanz der existentiellen Einsamkeit löst sich der Schatten auf und die Charaktere vereinen sich in einer losgelösten Gemeinschaft, in der jeder auf seinem Pfad in seiner nicht überwundenen, aber akzeptierten individuellen Einsamkeit ins Nichts schreitet.
Zugrunde liegt diesem Prozess das japanische Shu-Ha-Ri-Prinzip, einem sich in drei Schritten vollziehenden Weg vom Lernen über das sich Lösen bis hin zum Transzendieren und folgt zugleich jenem Prinzip, das der polnische Regisseur und Theoretiker Jerzy Grotowski als grundlegend für das Theater beschreibt. Es ist ein Mittel, „um unsere Grenzen zu überschreiten, unsere Beschränkungen zu überwinden, unsere Leere zu füllen – um uns selbst zu erfüllen. Das ist keine Bedingung, sondern ein Prozess, bei dem das Dunkel in uns langsam durchsichtig wird.” (Für ein Armes Theater, 1994)
Bei Tanizaki lesen wir dazu: „Meiner Meinung nach ist es die Art von uns Ostasiaten, die Umstände, in die wir einbezogen sind, zu akzeptieren und uns mit den jeweiligen Verhältnissen zufrieden zu geben. Deshalb stört uns das Dunkel nicht, wir nehmen es als etwas Unabänderliches hin, wenn es an Licht fehlt, sei’s drum – dann vertiefen wir uns eben in die Dunkelheit und entdecken darin eine ihr eigene Schönheit. Demgegenüber sind die aktiven Menschen des Westens ständig auf der Suche nach besseren Verhältnissen.“
ENGLISH TEXT
Text by Ronny Dietrich
Oscar Jockel describes his opera Lob des Schattens [in praise of the shadow] as "an attempt to depict human existential loneliness through the encounter with the shadow: It was the question of personal abysses and the desire for empty spaces that led me to the 'transcendental homelessness' (Georg Lukacs, Theory of the Novel, 1916) of our society: In times when we have illuminated everything and rationally grasped everything irrational from within and without (psychoanalysis, enlightenment, demystification, etc.), the irrationality of human action and the personal desire for emptiness seemed greater than ever to me. This emptiness fascinated me, which is why I wanted to look at it more closely. Empty spaces are never empty, but serve as a projection surface for one's own ego. This was already the case in the Old Testament, if you think of the theological significance of the desert, for example, but it is particularly evident in Japanese culture, which has always aestheticised the enclosure of darkness, shadow and emptiness."
This phenomenon is described in all its facets by the Japanese writer Jun'ichiro ̄ Tanizaki (1886-1965) in the book Lob des Schattens - Entwurf einer japanischen Ästhetik, published by Manesse in 1987 and translated into German by Eduard Klopfenstein. There it says: "Indeterminacy is a key feature of Japanese art: the avoidance of absolute ideas and images and above all of a horror pleni (the fear of filled surfaces). By playing with empty surfaces, such as the use of haze and fog, secondary motifs come into view, depending on the interpretive approach of the viewer and the sensations they trigger in his soul."
This idea, to which Oriental theatre is also committed, which - according to Antonin Artaud - "with its metaphysical tendencies is diametrically opposed to Western theatre with its psychological ones", is followed by the opera Lob des Schattens, which presents five individuals trapped in their loneliness and initially incapable of communication. These are archetypes borrowed from Japanese myths and legends, enclosed in their stories:
The monk who, in self-imposed solitude, searches for perfection in the knowledge that he will never be able to achieve it.
The statue who staggers back and forth, divided between the task assigned to her and the longing for her individuality.
The emperor, stripped of his power, ponders the futility of past wars, yet wishes for the past to return.
The geisha who, like a butterfly, seeks to free herself from her cocoon.
The empress who represses her personal suffering according to her status.
Oscar Jockel has assigned a haiku to each figure, that is, the shortest form of poetry that is traditionally composed of concrete images observed in one's own present, often in nature, in order to reveal the emotions hidden underneath only through the context that the recipients themselves must establish.
The ambiguity of the images chosen by the poets alone, due to the high number of homonyms in Japanese, leads to the most varied interpretations. This diversity of interpretation is reflected in the composition through vibrating sound surfaces and minimal transformations of the musical material, resembling a shimmering blaze of fire in front of which one can linger for hours and think one sees the whole world.
Oscar Jockel: "It was the Japanese aesthetic's fascination with the dark, the ambiguous and the constant transition that led me to search for the reasons behind my desire for empty surfaces, dark interior and exterior spaces and the inexplicable. The result is this opera, which illuminates those empty spaces with the help of darkness and shadow, providing not an answer but a different perspective on the question of our existential loneliness."
Over a finely pitched and constantly changing electronic background sound, the voices initially rise soloistically and independently of each other, only to overlap more and more as they progress, to come closer to each other and to form a supposed community in which they try to overcome their unwanted loneliness. A process that comes to a sudden halt with the appearance of the white "shadow". The shadow represents the abstraction of all loneliness, causing the characters to recognise their own individual loneliness in it one by one. Through this realisation and acceptance of existential loneliness, the shadow dissolves and the characters unite in a detached community in which each strides on his path in his unconquered but accepted individual loneliness into nothingness.
This process is based on the Japanese Shu-Ha-Ri principle, a three-step path from learning to detaching to transcending, and at the same time follows the principle that the Polish director and theorist Jerzy Grotowski describes as fundamental for theatre. It is a means "to transcend our limits, to overcome our restrictions, to fill our emptiness - to fulfil ourselves. It is not a condition, but a process in which the darkness within us slowly becomes transparent." (For a Poor Theatre, 1994)
In Tanizaki's work we read: "In my opinion, it is the nature of us East Asians to accept the circumstances in which we are involved and to be content with the respective conditions. That's why we don't mind the darkness, we accept it as something unchangeable, if there is a lack of light, so be it - then we just immerse ourselves in the darkness and discover its own beauty. In contrast, the active people of the West are constantly searching for better conditions."